Johannes Baptista Cattaneo Memoirs (German)
Vorbemerkung
Die nachfolgenden Aufzeichunungen enstammen der Feder eines der ersten Historiographen der Volgakolonien. Es sind allerdings nur ein paar lose Blätter aus der taten- und segensreichen Lebensgeschichte eines hervorragend gebildeten und begabten Mannes seiner Zeit, der unseren eingewanderten Altfordern nicht nur ein treuer Seelsorger, Freund und Berater war, sondern auch der erste wissenchaftlich ausgebildete Arzt des Wolgagebiets, dessen Namen einen guten Klang hatte weit über die Grenzen des Kolonialgebiets hinaus, bis tief hinein in die Kalmükrnsteppen. In unserem Volke aber lebt das Andenken an den "alten Katane" pietätvoll fort bis auf den heutigen Tag. Veröffentlicht sind diese Blätter worden im Wolga-Kalender von 1875, vermutlich durch weil. Pastor Samuel Bonwetsch, seinem Nachfolder im Amt zu Norka, aus dessen Feder auch beachtenswerte Aufzeichnungen über die reformierte Kirche in den Wolgakolonien auf uns überkommen sind, die sich in meinem Besitz befinden und später in diesen Spalten veröffentlicht werden sollen. P. S.
Die nachfolgenden Aufzeichunungen enstammen der Feder eines der ersten Historiographen der Volgakolonien. Es sind allerdings nur ein paar lose Blätter aus der taten- und segensreichen Lebensgeschichte eines hervorragend gebildeten und begabten Mannes seiner Zeit, der unseren eingewanderten Altfordern nicht nur ein treuer Seelsorger, Freund und Berater war, sondern auch der erste wissenchaftlich ausgebildete Arzt des Wolgagebiets, dessen Namen einen guten Klang hatte weit über die Grenzen des Kolonialgebiets hinaus, bis tief hinein in die Kalmükrnsteppen. In unserem Volke aber lebt das Andenken an den "alten Katane" pietätvoll fort bis auf den heutigen Tag. Veröffentlicht sind diese Blätter worden im Wolga-Kalender von 1875, vermutlich durch weil. Pastor Samuel Bonwetsch, seinem Nachfolder im Amt zu Norka, aus dessen Feder auch beachtenswerte Aufzeichnungen über die reformierte Kirche in den Wolgakolonien auf uns überkommen sind, die sich in meinem Besitz befinden und später in diesen Spalten veröffentlicht werden sollen. P. S.
Silhouette (Scherenschnitt) of Rev. Johann Baptist Cattaneo. Image Source: Eine Reise Durch Deutschland Und Russland, Seinen Freunden Beschrieben Von J.B. Cattaneo Aus Bünden, Gegenwaertigen Pfarrer Einer Reformierten Deutschen Colonie Zu Norka an Der Saratofischen Statthalterschaft an Der Wolga in Der Russischen Tartarei in Asien
I
Am 22. Juli 1763 erließ Katharina II. ein Manifest, wodurch sie ausländische Ansiedler nach Rußland zu übersiedeln aufforderte. Da sind unsere Vorfahren denn hereingezogen gekommen ins fremde Land und haben an den Ufern der Wolga eine neue Heimat gefunden. Vornehmlich eines haben sie mitgebracht aus der alten Heimat in diese neue, das war mehr wert, denn viel feines Gold, nämlich den alten Glauben ihrer Väter und das ungefälschte Evangelium. Sie habens dabei auch sonderlich gut gehabt, denn während bald nach ihrem Weggang draußen im alten Vaterland eine Zeit dürren Unglaubens kam, haben sie sich treuer christgläubiger Seelenhirten erfreuen dürfen. Einer derselben is Johann Baptista Cattaneo gewesen, von dem der Kalendermann num etwas erzählen oder vielmehr, den er selbst etwas von sich erzählen lassen will. Nur einiges sei als Einleitung zu dessen eigenen Aufzeichungen aus seinem Leben vorausgeschickt.
Johannes Baptista Cattaneo wurde im Jahre 1746 den 27. Juni zu Lavin, einem Flecken im Unter-Engadin im schweizerischen Kanton Graubünden, geboren. Seine gottesfürchtigen Eltern Thomas und Ursula Cattaneo bestimmten ihn gleich bei seiner Geburt für den geistlichen Stand und lehrten ihn frühzeitig kurze Gebete, Liederverse und Kernsprüche. Vom 7. Jahre an besuchte er die Ortschule und lernte dort Lesen, Schreiben, Singen und Hubners biblische Geschichten. Da starb sein Vater im Jahre 1755. Sein Vormund Pfarrer Sebastian Sekka übernahm seine Erziehung und seinen Unterricht; Cattaneo redete später oftmals von dem Segen, welchen er hier bei seiner Vorbereitung auf den erstmaligen Abendmahlgenuß empfing. Nach 2 Jahren des Unterrichts bei seinem gelehrten und frommen Oheim Peter von Porta begab er sich auf die Hochschule zu Zürich, um die Gottesgelehrsamkeit zu studieren. Seine Wohnumg bei einem Arzt gab ihm hier aber zugleich Gelegenheit, sich ärztliche, besonders chirurgische Kenntnisse zu sammeln. 1766 hatte Cattaneo seine Studien rühmlichst beendet und wurde Pfarrer zu Fläsch, wo er 4 Jahre mit Segen arbeitete. Nach späterer einjähriger Wirksamkeit zu Tschuders wurde er zum Pfarrer zu St. Anthony berufen und blieb daselbst 13 Jahre. Schon 1770 hatter er sich verheiratet. Da geschah es, es war im Jahre 1784, daß auf einer Reise nach Chur, der Haupstadt des Kantons, er ganz unerwartet einen Ruf als Pastor nach Norka erhielt. Er sagete zu and trat schon dem 5. Mai desselben Jahres mit Frau und 6 Kindern die Reise an. Am 3. August 1784 traf er ein.*) Er wirkte mit mannigfachen Unterbrechungen zu Norka bis zum 15. März 1828, und entschlief sanft am Morgen des 16. Januars 1831.
*) Im Laufe des ersten Jahres nach seiner Ankunft in Rußland schrieb er das überaus lesenswerte Büchlein: "Eine Reise durch Deutschland und Rußland, seinen Freunden beschrieben von Johann Baptista Cattaneo aus Bünden, gegenwärtigem Pfarrer einer reformierten deutschen Colonie zu Norka in der Saratowischen Statthalterschaft an der Wolga in der russischen Tatarey in Asien. Chur 1787". In diesem Werkchen schildert der Verfasser seine Reiseeindrücke, die er auf dem Wege durch die durchreisten Läander gesammelt, und bietet besonders kostbaren Stoff über die Zustände in Rußland. In einem Nachtrag bringt er ein Kulturbild der Wolgakolonien. Das Büchlein ist längst vom Büchermarkt verschwunden und ist nur noch hier und da in wissenschaftlichen Büchereien zu finden. P. S.
II
Lassen wir nun Cattaneo selbst reden. Er erzählt zunächst in seine Aufzeichnungen, deren Anfang leider verloren gegangen ist, von seinen mannigfaltigen Reisen, die er zu den zerstreut liegenden reformierten Gemeinden zu unternehmen hatte.
"Auf einer meiner Fahrten nach Popotschenja war ich in die Nacht hineingekommen und stieß plözlich auf 10 bis 12 nicht sehr menschenfreundlich aussehende Kerle -- Russen --, in deren Nähe gesattelte Pferde angebunden waren. Es war mir oft gesagt worden, daß in den dortigen Wäldern, an welchen ganz nahe die Moskausche Landstraße verbeigeht, ganze Rotten Straßenräuber hausten; daß diese Waldmänner auch dergleichen seien, war wohl nicht zu zweifeln. Vor ihnen zu fliehen, war schon zu spät, denn sie hatten uns schon bemerkt; zu ihnen zu fahren, war auch etwas Gewagtes. Doch entschloß ich mich zu letzterem, schnallte meinen Säbel um, nahm ein Paar geladene Pistolen zu mir und ging beherzt zu ihnen ans Feuer, und mein Fuhrmann folgte. Verlegen waren beide Parteien. Wir beim Anblick des sauberen Völkchens und sie -- indem sie uns für Inquisitoren (Ketzerrichter) mit einem starken Hinterhalt ansehen mochten. Denn obgleich ich ihnen, auf Befragen, nach Möglichkeit ganz wahr die Veranlassung unsers Hierherkommens erzählt hatte, so mochten sie doch wohl bezweifeln. Ich rauchte im Rücken meines Wagens ganz ruhig meine Pfeife Tabak usw. und erwartete so den Morgen. Doch als sich dieser nähern wollte, machte unsere Gesellschaft plötzlich Anstalt zu Aufbruch, ohne uns auf irgend eine Weise angefochten zu haben. -- Dieses fiel im Sommer 1788 vor, und man hat seitdem von dieser Bande nichts mehr gehört.
Das Zusammentreffen mit den abgelegen Deutschen, die ich bediente, war um so angenehmer, da es so selten geschah. In leiblicher und geistlicher Hinsicht fand ich da häufige Gelegenheit, meinen Mitmenschen zu dienen. Dies machte mich denn alles Ungemach, das ich bei diesen Reisen oft auszustehen hatte, immer wider in soweit vergessen, daß ich mich nie fürchtete, die Fahrten immer wider zu machen. --
Das Zusammentreffen mit den abgelegen Deutschen, die ich bediente, war um so angenehmer, da es so selten geschah. In leiblicher und geistlicher Hinsicht fand ich da häufige Gelegenheit, meinen Mitmenschen zu dienen. Dies machte mich denn alles Ungemach, das ich bei diesen Reisen oft auszustehen hatte, immer wider in soweit vergessen, daß ich mich nie fürchtete, die Fahrten immer wider zu machen. --
Im Jahre 1791 im Winter fuhr mich mein Fuhrmann jenseit der Wolga vom rechten Weg ab, geriet in die unübersehbare Steppe, die Nacht brach ein, und wir mußten uns im Schnee behelfen, so gut es ging. Am andern Tage fanden wir uns bald wieder zurecht und erreichten die nächste Kolonie, von der wir gegen 30 Werst abgekommen waren. -- Im Winter 1816 mußte ich auch unter heftigem Schneegestöber eine Zeitland in der Nacht auf dem Felde zubringe. Ich war in der 10 Werst von hier entlegenen Kolonie Splawnucha (Huck) und fuhr Nachmittags beim ziemlich starken Schneegestöber von da zurück. Das Wetter wurde immer fürchterlicher und uns im so gefährlicher, da es uns entgegenwehte. Nach einer langen, geschwerlichen Fahrt gelangten wir nach meiner Meinung in die Nähe von Norka, wurden aber wider abgetrieben und konnten uns nicht nur nicht zurechtfinden, obgleich wir viele Stunden herumgefahren waren, sondern wir konnten sogar auch nicht mehr von der Stelle, da wegen Glätte und Kälte das Stangenpferd sich jeden Augenblick ausspannte, der Fuhrmann aber nicht mehr imstande war, das sehr oft widerholte Anspannen fortzusetzen. Auch die Pferde waren matt. Wir lagerten uns, da es schon lange Nacht war, an einem unbekannten Orte. Ich schaffte mich in den Schnee, der Fuhrmann aber klagte, er könne es nicht aushalten, da er sich vorder erhitzt hatte und nun vor Frost and Nässe starrte. Er suchte und fand sich ein wenig zurecht -- fand endlich Norka, und aus der Kolonie kamen Leute, mich zu suchen, die mich um 1 Uhr in der Nacht nach Hause brachten. -- Anno 1790 wurde ich auf der Fahrt nach Splawnucha (Huck) in den Mühlen-See, über welchen der Winterweg führt, und wo das Eis mit uns brach, in eine Oeffnung geworfen. Die Not und mein Bettwerk nebst Pelz halfen mir schwimmen, und ich erreichte glücklich das Ufer. Der Fuhrmann, der außer Gefahr am entgegengesetzten Ufer mit seinem Schltten hielt, starrte for Schreck; ich aber vor Frost. Wir erreichten bald die 2 Werst davon gelegene Kolonie, und Ich erholte mich ohne weitere böse Folgen.
1798 wurde ich im Frühjahr, bei Abgang des Wassers, an eben dem Orte auf einem halben Wagen -- die hintere Achse und die Räder hatten wir beim Abfahren verloren, und mit den Rädern ging das Pferd durch -- in das große Wasser geschleppt, aber das Pferd brachte mich auf dem schwimmenden halben Wagen aufs Trockene am jenseitingen Ufer, wo aber gleich der Nagel brach, der den Rest des Wagens mit dem Vorderwagen verband, und so blieb ich nach glücklich beendigter abenteuerlicher Fahrt wohbehalten sitzzen. Als ein Wunder der göttlichen Bewahrung mußte ich es ansehen, daß ich hier -- sowie auch bei anderen Gefahren -- so unbeschädigt davon dam. Ihm sei Preis und Dank dafür gebracht!
Im Jahre 1805 brachte ich selbst per Post meinen Sohn Lukas nach der Kaiserl. Universität zu Dorpat in Livland, zirka 2000 Werst von hier. In Moskau, Petersburg und Dorpat erfuhren wir viel Gutes; besonders wurde in Petersburg auch von Seiten Sr. Kaiserl. Majestät unser Vorhaben sehr begünstigt und meinem Sohne zu seinem 3jährigen akademischen Kurso eine Kaiserl. Unterstützung à 1200 Rubel Allergnädigst gewährt. -- Zur gebührenden Dankbarkeit führte ich hier die, bereits früher auf Allerhöchste Veranstaltung begonnene, Pockenimpfung auf allen deutschen Kolonien ein, und nachdem ich über 8000 Kinder geimpft hatte, wurde mir von Sr. Majestät eine goldene Dose und später ein Kreuz am Wladimirbande, auf der Brust zu tragen, Allergnädigst verliehen. -- Mein genannter Sohn Lucas wurde nach beendigten akademischen Studien im Jahre 1808 in St. Petersburg examiniert, zum Predigtamte ordiniert und meinem Wunsche gemäß mir zum Amtsgehilfen konstituiert. Im Frühjahr 1809 ging mein Sohn nach erhaltenem Rufe und Konstitutorio, nach Astrachan als Prediger bei der dortingen evang. Gemeine, von wo er nach 2 Jahren mit Frau und Kind wieder zu mir kam und auf meine Kosten als Adjunkt bei mir lebte bis ich im Jahre 1817 beim Justiz-Collegia um meine Entlassung von dem mir zu beschwerlich gewordenen Dienste anhielt und gnädigst entlassen wurde; nachdem mein Sohn als mein Amts-Nachfolger gehörig konsituiert worden war.
Ich habe also dieses Kirchspiel 33 Jahre nacheinander bedient und bin in allem 51 Jahre als Prediger im Dienste gewesen. Jetzt unterziehe ich mich ganz nach meiner Bequemlichkeit nur geistlichen Amtsverrichtungen, da mein Alter von 73 Jahren mich gewaltig daran erinnert, daß mein Kraft schwindet. Die medizinische Praxis wird von mir täglich fortegsetzt denn nie fehlt es an Veranlassung dazu. --
III
Auch zu diesem Geschichte hat sich der Herr sehr reichlich mit seinem Segen gekannt. Mit demütigem Danke bekenne ich hinmit: Herr, Du bist der Meister, wir nur arme Werkzeuge in Deiner Hand! Unter den vielen Operierten finde ich bis 1819 angemerkt 16 Amputationen an Armen, Beinen, Fingern usw., die glücklich kuriert wurden. 27 von dem Krebs am Munde, im Gesicht, Halse, den Brüsten usw. Operierte und glücklich Geheilte. Wassersüchtige, die zeitig Hilfe suchten, wurden viele hergestellt. Anderweitige Gewächse an verschiedenen Teilen des Leibes, so we auch viele innerliche und äußerliche Schäden und Verletzungen wurden sehr viele glücklich geheilt. Bei meiner medizinischen Praxis habe mich immer der möglichst einfach Mittle bedient, um mir und den Patienten Kosten zu ersparen; denn durch einfache Mittle pflegt meistens glücklicher kuriert zu werden, als durch teure und vielfältig zusammengesetzte Medikamente.
Der Seltenheit wegen will ich doch auch einige extraordinäre Kuren hierhersetzen.
Der Vorsteher von Splawnucha zeigt mir an, daß ein Kolonist aus seiner Kolonie so melancholisch sei, daß er immer nur von Selbstmord rede und gar nichts arbeite, und daher auf obrigkeitl. Befehl schon seit einigen Jahren mit seiner Familie ernährt und gepflegt werden müsse. Ich besuchte den vermeinten Kranken als Beichtvater, machte auch Versuche, ihm zu helfen; aber er befand sich in dieser Lage ganz behaglich und blieb nach wie vor. Endlich wurde ich -- so wie es die ganze Gemeinde schon lange war -- des Dinges überdrüssig, ließ mir 4 resolute, unbescholtene Männer geben und ging mit ihnen zu dem Manne. Diesem deutete ich nun ernstlich an -- mit den 4 Männern hatte ich gehörig Abrede genommen -- daß, da er durch beständige Drohungen, sich selbst zu ersäufen, nun genug gesündigt habe und nun in den Augen der Welt ein Selbstmöder sei, er nun auch ausführen müsse, was er seit Jahren vorhabe; die Gemeine sei lange genug seinetwegen belästigt worden. Wir wollen Zeugen sein, und ich werde selbst seinen Selbstmord berichten, er müsse seine Teufelstat jetzt zu Stelle ausführen. Mit Mühe wurde der gut genährte Kerl in die Kleider gebracht; aber bevor noch alles fertig war, fing er an zu unterhandeln. Erst verlange er, man müsse ihn ins Wasser werfen, welches ihm aber abgeschlagen wurde, indem man keinen Teil am Selbstmord haben wolle. Endlich bat er um Schonung und versprach, er wolle sich von selbst umbringen.
Wir kapitulerten und kamen endlich darin überein: er versprach, von Stund an an seine Arbeit zu gehen und nie wieder mit Selbstmord zu drohen. Er hielt Wort und hat noch mehrere Jahre brav und ordentlich gelebt und für sich und die Seinen gearbeitet.
Ein Kolonist von Warenburg klagte mir die erbärmliche Lage seiner 30jährigen Tochter. Diese war wegen gebrechlichem Körper nicht zur Bauernarbeit gebraucht worden, sondern da sie eine religiöse, schöne Erziehung gehabt und überhaupt gute Gaben hatte, so pflegte sie außer ihren weiblichen Beschäftigungen Kinder im Christentum zu unterrichten und führte sonst immer ein sehr stilles, sittsames Leben. Jetzt aber hatte sie seit geraumer Zeit das sonderbare und betrübte Wesen an sich, daß sie die heiligsten und profansten Dinge untereinander mischte, -- sie sang und betete, lachte und tanzte, liebkoste jemand und versetzte ihm in eben dem Moment den empfindlichsten Streich usw.; und in allem diesem verrückten Zeuge benehme sie sich so, als gehöre alles dies zur Ordnung in der Welt. So wurde sie auf mein Zulassen nach Norka gebracht, wo sie uns einige Wochen lang unsäglich Not und Unruhe bei Tag und Nacht machte, und alle angewandten medizinischen Mittel blieben ohne erwünschten Erfolg. Als sie einmal des Nachts alles, was in unserem Hause nagellos war, auf den nahen Kirchhof getragen, und -- es war vom Sonnabend auf den Sonntag -- auf den Gräbern für den andern Tag zur Schau ausgestellt hatte, so wurde ich zum ersten Mal recht empfindlich über sie und drohte ihr für den nächsten Streich mit einer guten Tracht Schläge. Sie tat hierauf wiederum, wie immer nach gemachten Streichen, sehr niedlich und meinte unter anderm, ich würde sie doch, obgleich ich ihr damit gedroht, nicht schlagen. In der nächsten Nachte war ihr tolles und dabei zugleich religiös sein sollendes Wesen ärger als je. Ich hielt Wort, prügelte sie auf der Stelle tüchtig durch, -- sie verkroch sich und -- war geheilt. Nie war sie wieder unanstündig oder mürrisch unsw.; sie führte hernach immer ein stilles, sittsames, exemplarisches Leben.
Einmal brachte mir der hiesige Einwohner B. seine erwachsene ledige Tochter, welche verrückt war. Ich fand für nötig, ihr eine Ader am Fuß zu öffnen. Kaum sah sie Blut, so schrie sie aus vollem Halse und ununterbrochen, man soll zubinden. Als sie nicht erhört wurde, behauptete sie, sie sterbe; gleich ließ sie sich hinfallen und schrie: Ich sein tot, ich sein tot und begann die totenrolle zu spielen. Ihr Vater war in tausend Aengsten; ich aber tröstete ihn und verlangte, daß auf der Stelle Anstalt zur Beerdigung gemacht werden solle; forderte zu dem Ende einen Mann, der noch gegenwärtig war, auf, die Träger und das Grab schnell zu besorgen usw. die Tote hört's, wird nicht nur lebendig, sondern springt -- und unverbunden -- auf und zur Türe hinaus über den Hof und konnte nur mit Mühe von ihrem Vater eingeholt werden. Sie war geheilt; heiratete hier und hat nie Spuren von Verrücktheit gezeigt.
Hier will ich nun, in Erwartung einer vielleicht baldigen seligen Vollendung meines sündigen, doch durch Christum gerechtfertigten Laufes enden, wobei ich mit Demut und herzlichem Danke gegen meinen lieben Herrn ausrufe: Mit welcher Geduld und Gnade und Huld hast Du mich geführt, so daß sich mein Denken darüber verliert! Ich, Asche und Erde, was bin ich doch wert? Nichts an mir ist gut, als was das Blut Jesu selbst wirket und tut. Er hat mich so lieb! Ach Gott, welch ein Trieb von Liebe und Gnad ist der, so Ihn für mich in den Tod gebracht hat! Wie dank ich's Ihm nun? Was soll ich ihm tun? O, daß ihm zu Ehr'n all meine Blutstropfen geheiligt wärn! -- Norken, d. 27. März 1819.
Da heute, den 30. April 1826 mich noch gesund -- wohl und ziemlich bei Kräften und Tätigkeit durch die Gnade des Herren befinde -- so finde für gut, folgendes noch beizufügen.
1821, in der Mitte des März-Monats, da Veränderungen und Wechsel mancher Prediger und Pfarreien durch das neu aufgekommene Evangel. Consistorium in Saratow veranlaßt wurde, kam mein Sohn Lukas vom Norkischen zum Talowkischen Kirchspiel als Pfarrer hin, und das Norkische Kirchspiel, allgemein und fest entschlossen mich alten Prediger, so lang ich lebe, zu erbitten, sie nicht zu verlassen, brachte mich zum Entschluß: ihnen zuzusagen. War also seitdem allein ihr Seelsorger und Prediger, und der Herr gab Gnade, bis dahin gesund und ohne Versäumnis auch nicht einiger Amtsgeschäfte fortsetzen zu können! Im vorigen 1825. Jahr im Juni, besuchte noch einmal die Brüdergemeine in Sarepta und meine Kinder daselbst zu vielem Vergnügen, feierte bei ihnen meinen 80. Geburtstag. Fuhr gesund und gestärkt wider zu meinem lieben Kirchspiel, wo dem Herrn empfohlen von Seiner Barmherzigkeit abhangen und nach Seinem Willen zu leben und zu sterben stets bereit dastehe. Er erhalte mir den Trost: Ich weiß, an wen ich glaube, und daß Er meine Beilagen erhalten und aufheben wird bis auf den rechten Tag". --
Soweit die Erinnerungen J. B. Cattaneo's.
Am 22. Juli 1763 erließ Katharina II. ein Manifest, wodurch sie ausländische Ansiedler nach Rußland zu übersiedeln aufforderte. Da sind unsere Vorfahren denn hereingezogen gekommen ins fremde Land und haben an den Ufern der Wolga eine neue Heimat gefunden. Vornehmlich eines haben sie mitgebracht aus der alten Heimat in diese neue, das war mehr wert, denn viel feines Gold, nämlich den alten Glauben ihrer Väter und das ungefälschte Evangelium. Sie habens dabei auch sonderlich gut gehabt, denn während bald nach ihrem Weggang draußen im alten Vaterland eine Zeit dürren Unglaubens kam, haben sie sich treuer christgläubiger Seelenhirten erfreuen dürfen. Einer derselben is Johann Baptista Cattaneo gewesen, von dem der Kalendermann num etwas erzählen oder vielmehr, den er selbst etwas von sich erzählen lassen will. Nur einiges sei als Einleitung zu dessen eigenen Aufzeichungen aus seinem Leben vorausgeschickt.
Johannes Baptista Cattaneo wurde im Jahre 1746 den 27. Juni zu Lavin, einem Flecken im Unter-Engadin im schweizerischen Kanton Graubünden, geboren. Seine gottesfürchtigen Eltern Thomas und Ursula Cattaneo bestimmten ihn gleich bei seiner Geburt für den geistlichen Stand und lehrten ihn frühzeitig kurze Gebete, Liederverse und Kernsprüche. Vom 7. Jahre an besuchte er die Ortschule und lernte dort Lesen, Schreiben, Singen und Hubners biblische Geschichten. Da starb sein Vater im Jahre 1755. Sein Vormund Pfarrer Sebastian Sekka übernahm seine Erziehung und seinen Unterricht; Cattaneo redete später oftmals von dem Segen, welchen er hier bei seiner Vorbereitung auf den erstmaligen Abendmahlgenuß empfing. Nach 2 Jahren des Unterrichts bei seinem gelehrten und frommen Oheim Peter von Porta begab er sich auf die Hochschule zu Zürich, um die Gottesgelehrsamkeit zu studieren. Seine Wohnumg bei einem Arzt gab ihm hier aber zugleich Gelegenheit, sich ärztliche, besonders chirurgische Kenntnisse zu sammeln. 1766 hatte Cattaneo seine Studien rühmlichst beendet und wurde Pfarrer zu Fläsch, wo er 4 Jahre mit Segen arbeitete. Nach späterer einjähriger Wirksamkeit zu Tschuders wurde er zum Pfarrer zu St. Anthony berufen und blieb daselbst 13 Jahre. Schon 1770 hatter er sich verheiratet. Da geschah es, es war im Jahre 1784, daß auf einer Reise nach Chur, der Haupstadt des Kantons, er ganz unerwartet einen Ruf als Pastor nach Norka erhielt. Er sagete zu and trat schon dem 5. Mai desselben Jahres mit Frau und 6 Kindern die Reise an. Am 3. August 1784 traf er ein.*) Er wirkte mit mannigfachen Unterbrechungen zu Norka bis zum 15. März 1828, und entschlief sanft am Morgen des 16. Januars 1831.
*) Im Laufe des ersten Jahres nach seiner Ankunft in Rußland schrieb er das überaus lesenswerte Büchlein: "Eine Reise durch Deutschland und Rußland, seinen Freunden beschrieben von Johann Baptista Cattaneo aus Bünden, gegenwärtigem Pfarrer einer reformierten deutschen Colonie zu Norka in der Saratowischen Statthalterschaft an der Wolga in der russischen Tatarey in Asien. Chur 1787". In diesem Werkchen schildert der Verfasser seine Reiseeindrücke, die er auf dem Wege durch die durchreisten Läander gesammelt, und bietet besonders kostbaren Stoff über die Zustände in Rußland. In einem Nachtrag bringt er ein Kulturbild der Wolgakolonien. Das Büchlein ist längst vom Büchermarkt verschwunden und ist nur noch hier und da in wissenschaftlichen Büchereien zu finden. P. S.
II
Lassen wir nun Cattaneo selbst reden. Er erzählt zunächst in seine Aufzeichnungen, deren Anfang leider verloren gegangen ist, von seinen mannigfaltigen Reisen, die er zu den zerstreut liegenden reformierten Gemeinden zu unternehmen hatte.
"Auf einer meiner Fahrten nach Popotschenja war ich in die Nacht hineingekommen und stieß plözlich auf 10 bis 12 nicht sehr menschenfreundlich aussehende Kerle -- Russen --, in deren Nähe gesattelte Pferde angebunden waren. Es war mir oft gesagt worden, daß in den dortigen Wäldern, an welchen ganz nahe die Moskausche Landstraße verbeigeht, ganze Rotten Straßenräuber hausten; daß diese Waldmänner auch dergleichen seien, war wohl nicht zu zweifeln. Vor ihnen zu fliehen, war schon zu spät, denn sie hatten uns schon bemerkt; zu ihnen zu fahren, war auch etwas Gewagtes. Doch entschloß ich mich zu letzterem, schnallte meinen Säbel um, nahm ein Paar geladene Pistolen zu mir und ging beherzt zu ihnen ans Feuer, und mein Fuhrmann folgte. Verlegen waren beide Parteien. Wir beim Anblick des sauberen Völkchens und sie -- indem sie uns für Inquisitoren (Ketzerrichter) mit einem starken Hinterhalt ansehen mochten. Denn obgleich ich ihnen, auf Befragen, nach Möglichkeit ganz wahr die Veranlassung unsers Hierherkommens erzählt hatte, so mochten sie doch wohl bezweifeln. Ich rauchte im Rücken meines Wagens ganz ruhig meine Pfeife Tabak usw. und erwartete so den Morgen. Doch als sich dieser nähern wollte, machte unsere Gesellschaft plötzlich Anstalt zu Aufbruch, ohne uns auf irgend eine Weise angefochten zu haben. -- Dieses fiel im Sommer 1788 vor, und man hat seitdem von dieser Bande nichts mehr gehört.
Das Zusammentreffen mit den abgelegen Deutschen, die ich bediente, war um so angenehmer, da es so selten geschah. In leiblicher und geistlicher Hinsicht fand ich da häufige Gelegenheit, meinen Mitmenschen zu dienen. Dies machte mich denn alles Ungemach, das ich bei diesen Reisen oft auszustehen hatte, immer wider in soweit vergessen, daß ich mich nie fürchtete, die Fahrten immer wider zu machen. --
Das Zusammentreffen mit den abgelegen Deutschen, die ich bediente, war um so angenehmer, da es so selten geschah. In leiblicher und geistlicher Hinsicht fand ich da häufige Gelegenheit, meinen Mitmenschen zu dienen. Dies machte mich denn alles Ungemach, das ich bei diesen Reisen oft auszustehen hatte, immer wider in soweit vergessen, daß ich mich nie fürchtete, die Fahrten immer wider zu machen. --
Im Jahre 1791 im Winter fuhr mich mein Fuhrmann jenseit der Wolga vom rechten Weg ab, geriet in die unübersehbare Steppe, die Nacht brach ein, und wir mußten uns im Schnee behelfen, so gut es ging. Am andern Tage fanden wir uns bald wieder zurecht und erreichten die nächste Kolonie, von der wir gegen 30 Werst abgekommen waren. -- Im Winter 1816 mußte ich auch unter heftigem Schneegestöber eine Zeitland in der Nacht auf dem Felde zubringe. Ich war in der 10 Werst von hier entlegenen Kolonie Splawnucha (Huck) und fuhr Nachmittags beim ziemlich starken Schneegestöber von da zurück. Das Wetter wurde immer fürchterlicher und uns im so gefährlicher, da es uns entgegenwehte. Nach einer langen, geschwerlichen Fahrt gelangten wir nach meiner Meinung in die Nähe von Norka, wurden aber wider abgetrieben und konnten uns nicht nur nicht zurechtfinden, obgleich wir viele Stunden herumgefahren waren, sondern wir konnten sogar auch nicht mehr von der Stelle, da wegen Glätte und Kälte das Stangenpferd sich jeden Augenblick ausspannte, der Fuhrmann aber nicht mehr imstande war, das sehr oft widerholte Anspannen fortzusetzen. Auch die Pferde waren matt. Wir lagerten uns, da es schon lange Nacht war, an einem unbekannten Orte. Ich schaffte mich in den Schnee, der Fuhrmann aber klagte, er könne es nicht aushalten, da er sich vorder erhitzt hatte und nun vor Frost and Nässe starrte. Er suchte und fand sich ein wenig zurecht -- fand endlich Norka, und aus der Kolonie kamen Leute, mich zu suchen, die mich um 1 Uhr in der Nacht nach Hause brachten. -- Anno 1790 wurde ich auf der Fahrt nach Splawnucha (Huck) in den Mühlen-See, über welchen der Winterweg führt, und wo das Eis mit uns brach, in eine Oeffnung geworfen. Die Not und mein Bettwerk nebst Pelz halfen mir schwimmen, und ich erreichte glücklich das Ufer. Der Fuhrmann, der außer Gefahr am entgegengesetzten Ufer mit seinem Schltten hielt, starrte for Schreck; ich aber vor Frost. Wir erreichten bald die 2 Werst davon gelegene Kolonie, und Ich erholte mich ohne weitere böse Folgen.
1798 wurde ich im Frühjahr, bei Abgang des Wassers, an eben dem Orte auf einem halben Wagen -- die hintere Achse und die Räder hatten wir beim Abfahren verloren, und mit den Rädern ging das Pferd durch -- in das große Wasser geschleppt, aber das Pferd brachte mich auf dem schwimmenden halben Wagen aufs Trockene am jenseitingen Ufer, wo aber gleich der Nagel brach, der den Rest des Wagens mit dem Vorderwagen verband, und so blieb ich nach glücklich beendigter abenteuerlicher Fahrt wohbehalten sitzzen. Als ein Wunder der göttlichen Bewahrung mußte ich es ansehen, daß ich hier -- sowie auch bei anderen Gefahren -- so unbeschädigt davon dam. Ihm sei Preis und Dank dafür gebracht!
Im Jahre 1805 brachte ich selbst per Post meinen Sohn Lukas nach der Kaiserl. Universität zu Dorpat in Livland, zirka 2000 Werst von hier. In Moskau, Petersburg und Dorpat erfuhren wir viel Gutes; besonders wurde in Petersburg auch von Seiten Sr. Kaiserl. Majestät unser Vorhaben sehr begünstigt und meinem Sohne zu seinem 3jährigen akademischen Kurso eine Kaiserl. Unterstützung à 1200 Rubel Allergnädigst gewährt. -- Zur gebührenden Dankbarkeit führte ich hier die, bereits früher auf Allerhöchste Veranstaltung begonnene, Pockenimpfung auf allen deutschen Kolonien ein, und nachdem ich über 8000 Kinder geimpft hatte, wurde mir von Sr. Majestät eine goldene Dose und später ein Kreuz am Wladimirbande, auf der Brust zu tragen, Allergnädigst verliehen. -- Mein genannter Sohn Lucas wurde nach beendigten akademischen Studien im Jahre 1808 in St. Petersburg examiniert, zum Predigtamte ordiniert und meinem Wunsche gemäß mir zum Amtsgehilfen konstituiert. Im Frühjahr 1809 ging mein Sohn nach erhaltenem Rufe und Konstitutorio, nach Astrachan als Prediger bei der dortingen evang. Gemeine, von wo er nach 2 Jahren mit Frau und Kind wieder zu mir kam und auf meine Kosten als Adjunkt bei mir lebte bis ich im Jahre 1817 beim Justiz-Collegia um meine Entlassung von dem mir zu beschwerlich gewordenen Dienste anhielt und gnädigst entlassen wurde; nachdem mein Sohn als mein Amts-Nachfolger gehörig konsituiert worden war.
Ich habe also dieses Kirchspiel 33 Jahre nacheinander bedient und bin in allem 51 Jahre als Prediger im Dienste gewesen. Jetzt unterziehe ich mich ganz nach meiner Bequemlichkeit nur geistlichen Amtsverrichtungen, da mein Alter von 73 Jahren mich gewaltig daran erinnert, daß mein Kraft schwindet. Die medizinische Praxis wird von mir täglich fortegsetzt denn nie fehlt es an Veranlassung dazu. --
III
Auch zu diesem Geschichte hat sich der Herr sehr reichlich mit seinem Segen gekannt. Mit demütigem Danke bekenne ich hinmit: Herr, Du bist der Meister, wir nur arme Werkzeuge in Deiner Hand! Unter den vielen Operierten finde ich bis 1819 angemerkt 16 Amputationen an Armen, Beinen, Fingern usw., die glücklich kuriert wurden. 27 von dem Krebs am Munde, im Gesicht, Halse, den Brüsten usw. Operierte und glücklich Geheilte. Wassersüchtige, die zeitig Hilfe suchten, wurden viele hergestellt. Anderweitige Gewächse an verschiedenen Teilen des Leibes, so we auch viele innerliche und äußerliche Schäden und Verletzungen wurden sehr viele glücklich geheilt. Bei meiner medizinischen Praxis habe mich immer der möglichst einfach Mittle bedient, um mir und den Patienten Kosten zu ersparen; denn durch einfache Mittle pflegt meistens glücklicher kuriert zu werden, als durch teure und vielfältig zusammengesetzte Medikamente.
Der Seltenheit wegen will ich doch auch einige extraordinäre Kuren hierhersetzen.
Der Vorsteher von Splawnucha zeigt mir an, daß ein Kolonist aus seiner Kolonie so melancholisch sei, daß er immer nur von Selbstmord rede und gar nichts arbeite, und daher auf obrigkeitl. Befehl schon seit einigen Jahren mit seiner Familie ernährt und gepflegt werden müsse. Ich besuchte den vermeinten Kranken als Beichtvater, machte auch Versuche, ihm zu helfen; aber er befand sich in dieser Lage ganz behaglich und blieb nach wie vor. Endlich wurde ich -- so wie es die ganze Gemeinde schon lange war -- des Dinges überdrüssig, ließ mir 4 resolute, unbescholtene Männer geben und ging mit ihnen zu dem Manne. Diesem deutete ich nun ernstlich an -- mit den 4 Männern hatte ich gehörig Abrede genommen -- daß, da er durch beständige Drohungen, sich selbst zu ersäufen, nun genug gesündigt habe und nun in den Augen der Welt ein Selbstmöder sei, er nun auch ausführen müsse, was er seit Jahren vorhabe; die Gemeine sei lange genug seinetwegen belästigt worden. Wir wollen Zeugen sein, und ich werde selbst seinen Selbstmord berichten, er müsse seine Teufelstat jetzt zu Stelle ausführen. Mit Mühe wurde der gut genährte Kerl in die Kleider gebracht; aber bevor noch alles fertig war, fing er an zu unterhandeln. Erst verlange er, man müsse ihn ins Wasser werfen, welches ihm aber abgeschlagen wurde, indem man keinen Teil am Selbstmord haben wolle. Endlich bat er um Schonung und versprach, er wolle sich von selbst umbringen.
Wir kapitulerten und kamen endlich darin überein: er versprach, von Stund an an seine Arbeit zu gehen und nie wieder mit Selbstmord zu drohen. Er hielt Wort und hat noch mehrere Jahre brav und ordentlich gelebt und für sich und die Seinen gearbeitet.
Ein Kolonist von Warenburg klagte mir die erbärmliche Lage seiner 30jährigen Tochter. Diese war wegen gebrechlichem Körper nicht zur Bauernarbeit gebraucht worden, sondern da sie eine religiöse, schöne Erziehung gehabt und überhaupt gute Gaben hatte, so pflegte sie außer ihren weiblichen Beschäftigungen Kinder im Christentum zu unterrichten und führte sonst immer ein sehr stilles, sittsames Leben. Jetzt aber hatte sie seit geraumer Zeit das sonderbare und betrübte Wesen an sich, daß sie die heiligsten und profansten Dinge untereinander mischte, -- sie sang und betete, lachte und tanzte, liebkoste jemand und versetzte ihm in eben dem Moment den empfindlichsten Streich usw.; und in allem diesem verrückten Zeuge benehme sie sich so, als gehöre alles dies zur Ordnung in der Welt. So wurde sie auf mein Zulassen nach Norka gebracht, wo sie uns einige Wochen lang unsäglich Not und Unruhe bei Tag und Nacht machte, und alle angewandten medizinischen Mittel blieben ohne erwünschten Erfolg. Als sie einmal des Nachts alles, was in unserem Hause nagellos war, auf den nahen Kirchhof getragen, und -- es war vom Sonnabend auf den Sonntag -- auf den Gräbern für den andern Tag zur Schau ausgestellt hatte, so wurde ich zum ersten Mal recht empfindlich über sie und drohte ihr für den nächsten Streich mit einer guten Tracht Schläge. Sie tat hierauf wiederum, wie immer nach gemachten Streichen, sehr niedlich und meinte unter anderm, ich würde sie doch, obgleich ich ihr damit gedroht, nicht schlagen. In der nächsten Nachte war ihr tolles und dabei zugleich religiös sein sollendes Wesen ärger als je. Ich hielt Wort, prügelte sie auf der Stelle tüchtig durch, -- sie verkroch sich und -- war geheilt. Nie war sie wieder unanstündig oder mürrisch unsw.; sie führte hernach immer ein stilles, sittsames, exemplarisches Leben.
Einmal brachte mir der hiesige Einwohner B. seine erwachsene ledige Tochter, welche verrückt war. Ich fand für nötig, ihr eine Ader am Fuß zu öffnen. Kaum sah sie Blut, so schrie sie aus vollem Halse und ununterbrochen, man soll zubinden. Als sie nicht erhört wurde, behauptete sie, sie sterbe; gleich ließ sie sich hinfallen und schrie: Ich sein tot, ich sein tot und begann die totenrolle zu spielen. Ihr Vater war in tausend Aengsten; ich aber tröstete ihn und verlangte, daß auf der Stelle Anstalt zur Beerdigung gemacht werden solle; forderte zu dem Ende einen Mann, der noch gegenwärtig war, auf, die Träger und das Grab schnell zu besorgen usw. die Tote hört's, wird nicht nur lebendig, sondern springt -- und unverbunden -- auf und zur Türe hinaus über den Hof und konnte nur mit Mühe von ihrem Vater eingeholt werden. Sie war geheilt; heiratete hier und hat nie Spuren von Verrücktheit gezeigt.
Hier will ich nun, in Erwartung einer vielleicht baldigen seligen Vollendung meines sündigen, doch durch Christum gerechtfertigten Laufes enden, wobei ich mit Demut und herzlichem Danke gegen meinen lieben Herrn ausrufe: Mit welcher Geduld und Gnade und Huld hast Du mich geführt, so daß sich mein Denken darüber verliert! Ich, Asche und Erde, was bin ich doch wert? Nichts an mir ist gut, als was das Blut Jesu selbst wirket und tut. Er hat mich so lieb! Ach Gott, welch ein Trieb von Liebe und Gnad ist der, so Ihn für mich in den Tod gebracht hat! Wie dank ich's Ihm nun? Was soll ich ihm tun? O, daß ihm zu Ehr'n all meine Blutstropfen geheiligt wärn! -- Norken, d. 27. März 1819.
Da heute, den 30. April 1826 mich noch gesund -- wohl und ziemlich bei Kräften und Tätigkeit durch die Gnade des Herren befinde -- so finde für gut, folgendes noch beizufügen.
1821, in der Mitte des März-Monats, da Veränderungen und Wechsel mancher Prediger und Pfarreien durch das neu aufgekommene Evangel. Consistorium in Saratow veranlaßt wurde, kam mein Sohn Lukas vom Norkischen zum Talowkischen Kirchspiel als Pfarrer hin, und das Norkische Kirchspiel, allgemein und fest entschlossen mich alten Prediger, so lang ich lebe, zu erbitten, sie nicht zu verlassen, brachte mich zum Entschluß: ihnen zuzusagen. War also seitdem allein ihr Seelsorger und Prediger, und der Herr gab Gnade, bis dahin gesund und ohne Versäumnis auch nicht einiger Amtsgeschäfte fortsetzen zu können! Im vorigen 1825. Jahr im Juni, besuchte noch einmal die Brüdergemeine in Sarepta und meine Kinder daselbst zu vielem Vergnügen, feierte bei ihnen meinen 80. Geburtstag. Fuhr gesund und gestärkt wider zu meinem lieben Kirchspiel, wo dem Herrn empfohlen von Seiner Barmherzigkeit abhangen und nach Seinem Willen zu leben und zu sterben stets bereit dastehe. Er erhalte mir den Trost: Ich weiß, an wen ich glaube, und daß Er meine Beilagen erhalten und aufheben wird bis auf den rechten Tag". --
Soweit die Erinnerungen J. B. Cattaneo's.
Source
The memoirs of Johann Baptist Cattaneo, one of the most notable pastors of the Reformed Church in Norka, were published in the 1923 edition of the Wolgadeutsche Monatshefte, Volume 2, pp. 23-5. The author introducing Cattaneo's own words is probably the Volga German, Peter Sinner, who was editor of the Wolgadeutsche Monatshefte at that time. This work was extracted by Robert Bradley and is posted here with his permission. Read more about Robert Bradley's interest in Rev. Cattaneo.
The original English version of the memoirs can be read here.
The original English version of the memoirs can be read here.
Last updated February 5, 2024